aus Klinger, Judith: Robin Hood – Auf der Suche nach einer Legende, Darmstadt, 2015 (S. 8ff)
Ein Pfeil schwirrt aus dem Nichts. Er trifft sein Ziel mit absoluter, spielerischer Sicherheit, doch der Bogenschütze ist längst verschwunden. Vielleicht dort, wo sich im Dickicht noch Schatten unter den Bäumen bewegen. Im Gewirr von Hell und Dunkel verliert sich seine Spur.
Robin Hood war immer schon da und ist doch seit Langem nicht mehr hier. Er ist flüchtig, hinterlässt vielfältige Spuren, die nur schwer zu entziffern sind, und widersetzt sich allen Versuchen, ihn endgültig dingfest zu machen. Er ist ein Meister der Maskeraden und Verstellungen, der sich über Grenzen hinwegsetzt und nur dort kenntlich wird, wohin ihm niemand folgen kann. Er ist ein unberechenbarer Bandit, ein gesetzloser Anführer seiner merry men, aus dem Jahrhunderte einen edelmütigen Rebellen gegen Ungerechtigkeiten aller Art gemacht haben. Er ist ein Herr der Wälder, die sich seinetwegen verwandeln und ihn verwandelt haben.
In Robin Hood verkörpern sich Träume. Träume von sozialer Gerechigkeit, die in einer Zeit der Hedgefonds und Bankenkrisen neue Aktualität gewinnen können. Träume vom Leben im Einklang mit der Natur, wie sie die Namensgebung der deutschen Umwelt- und Naturschutzorganisation Robin Wood beschwört. Träume von heroischem Widerstand und einem Freiheitskampf jenseits aller Institutionen und Ideologien, den Zynikern zum Trotz.
Dieser transnationale, nahezu allgegenwärtige Robin Hood hat sich weit von seinen mittelalterlichen Ursprüngen entfernt. Dennoch beschäftigt die Frage nach den geschichtlichen Grundlagen des Robin-Hood-Mythos nicht nur Historiker und Literaturwissenschaftler. Ist hinter den zahlreichen Geschichten noch ein historischer Kern oder ein Lebenslauf auszumachen, der den Anstoß für die Legendenbildung gab? Oder sollte man Robin Hood nicht als Person, sondern als Kristallisationspunkt für kollektive Fantasien betrachten?
Am Anfang der noch greifbaren Überlieferung steht jedenfalls nicht Robin Hood selbst, sondern der Widerhall seiner Geschichte. In Piers Plowman (nach 1360) ließ William Langland eine seiner Figuren sagen:
Ich kenne mein Vaterunser nicht so vollkommen wie es der Priester singt, aber ich kenne Verse von Robin Hood und Randolf, Graf von Chester.
Der hier spricht, ist Sloth, was so viel wie ‚Trägheit‘ bedeutet: eine leibhaftige Sünde. Wer statt des Paternoster nur rymes of Robyn hood kennt, beschäftigt sich offenbar mit anrüchigen und wertlosen Geschichten. Der scharfe Kontrast zwischen Latein, der Gelehrtensprache, und mündlich kursierenden Versen weist den Liedern oder Erzählungen von Robin Hood einen Platz in der Populärkultur zu. Wenn sich Sloth dafür mehr als für sein Seelenheil interessiert, stellt das – aus kirchlicher Sicht – bereits eine Regelverletzung dar. Vielleicht spiegelt er damit Robin selbst, dem Regelverstöße und Grenzüberschreitungen aller Art nachgesagt werden. Aber wer ist dieser Robin Hood? Ein isolierter Vers, der um 1425 aufgezeichnet wurde, beantwortet diese Frage mit einem rätselhaften Bild:
Robin Hood stand in Sherwood, in Kapuze und Hut, Hosen und Schuhen, 24 Pfeile hielt er in seinen Händen.
Dieser Vers erzählt keine Geschichte, sondern er präsentiert eine Gestalt, bewaffnet und bekleidet, mitten im Wald. Wer so viele Pfeile mit sich herumträgt, geht vielleicht zur Jagd, aber er stellt auch eine Bedrohung dar. (…)
Ob im Wald von Sherwood oder Barnsdale, Robin Hood ist in der Vorstellung der Zuhörer oder Leser schon lange präsent, und deswegen fallen diese verstreuten Bemerkungen auch so knapp und fragmentarisch aus. Ganz beiläufig legen sie eine Spur, denn greifbar wird darin nur das Echo der Faszination, die Robin Hood umgibt. Als ‚hochgelobten Wegelagerer‘ kennt ihn eine Chronik von 1420. Das ist ein Widerspruch in sich, denn an Straßenräubern gibt es eigentlich nichts zu loben, und noch weniger eignen sie sich als Inspiration für Lieder und Geschichten.
Dieser innere Widerspruch hat allerdings Methode. Nichts charakterisiert Robin Hood so sehr wie die Spannung von Gesetz und Widerstand im Namen einer anderen Ordnung. Von Beginn dieser mysteriösen Geschichte an ist Robin nicht bloß ein Räuber, sondern auch Anführer einer widerständigen Gemeinschaft, der sich ebenso unbekümmert bereichert, wie er andere beschenkt. Er haust als Außenseiter im Wald und begibt sich immer wieder unerkannt in die Gesellschaft, um deren Ordnungsmächte herauszufordern. Sein Eigensinn steht quer zu allen geltenden Regeln und stellt selbst die Loyalität seiner Gefolgsleute auf schwere Proben. So beschreiben ihn jedenfalls die frühesten Geschichten.
Robin Hood ist eine überaus schillernde Gestalt, die sich immer schon zwischen den Welten bewegt: zwischen Wald und Stadt, Gesetz und Widerstand, Edelmut und Anarchie. Seine Faszinationskraft hält ungebrochen an. Neben König Artus gehört er zu den populärsten Symbolfiguren des Mittelalters, und fast jeder kennt ihn als Rebellen mit sozialem Gewissen. Als überlebensgroßer Mythos ist er in der heutigen Populärkultur mindestens so präsent wie vor 600 Jahren. So viel Kontinuität ist erstaunlich, aber dahinter verbergen sich auch Brüche und Umdeutungen, denn zahlreiche neue Geschichten haben sich um die alten gelagert, sie verdrängt oder verändert. Darum geht es in diesem Buch: um die Geschichte und die Geschichten von Robin Hood in ihrer je eigenen Zeit ebenso wie die Vorstellungen, die politischen Ideale und romantischen Fantasien, die sich an ihn geknüpft haben. Das als bloßen Prozess der Legendenbildung zu sehen, würde viel zu kurz greifen, denn eins ist sicher: Robin Hood war immer schon ein Meister der Verwandlung.